Sonntag, 20. Juli 2014
Mein Berlin
Für eine Schulaufgabe (Studienfahrt nach Berlin) dieses poetisch angehauchte Stadtprofil...


Mein Berlin. Natürlich kann niemand das wirklich sagen. Berlin ist keine Stadt die irgendjemandem gehört. Berlin gehört gleichzeitig allen und niemandem. Am ehesten gehört es vielleicht den Tauben auf den Häusern.
Berlin, das heißt Geschichte und Vergangenheit. Es heißt Mauer und Trennung, aber auch Wiedervereinigung und Neuanfang. Es heißt Luftbrücke, es heißt Holocaust-Denkmal und Stasi und Potsdamerkonferenz und so vieles mehr. Berlin ist eine gezeichnete Stadt, eine Stadt mit einem vernarbten Gesicht und Augen, in denen man sieht, dass sie alles überleben können. Dass sie alles überlebt haben. Eine Stadt mit gerunzelter Stirn und Lachfalten um die Mundwinkel. Diese Stadt hat so viel erlebt, eine unglaubliche Zerstörung und den Wiederaufbau, Morde und Geburten, Trauer und Freude, und man kann es sehen. Wenn man die Augen aufmacht und hinsieht, dann kann man die Details erkennen, die sich in jeder Ecke verstecken, kleine Zeichen und Dinge die alle ihre ganz eigene Geschichte von Berlin erzählen. Nur derjenige, der sie alle gesehen hat, der jede Geschichte gehört hat, der kann behaupten, dass er Berlin wirklich kennt.
Berlin, das heißt Politik und Macht. Es heißt Reichstag und Bundestag und Regierungsviertel, es heißt Parlament und rotes Rathaus, Diskussionen und Demonstrationen. Es heißt neue Anstöße in der Politik, es heißt Aktionen und Reaktionen, es heißt große, aufsehen erregende Proteste wie den CSD oder kleine, unauffällige an Laternenpfählen und Ampeln. Es heißt Wissenschaft und Universität, lernen und lehren, sprechen und lesen und Austauschen, neu entdecken und wiederentdecken, belegen und widerlegen.

Berlin, das heißt Kunst und Musik und Literatur. Es heißt Abenteuer und Straßenpoesie, es heißt Fête de la Music, es heißt Museumsinsel und Volksbühne und komische Oper, Straßenkunst und Grafity. Es heißt alternative Künstlerverbände, Hipster und unterirdische Ateliers mit viel zu wenig Licht an der Bergmannstraße in Kreuzberg. Es heißt Gartenbauprojekte auf dem Tempelhofer Feld und es heißt Menschen, die sich Zeit nehmen, mit winzigen Gesten Kunst und Schönheit durch die ganze Stadt zu verstreuen. Neue Ideen, neue Lebensweisen, unendlich viele verschiedene Kulturen.
Berlin, das heißt auch der Blick nach unten, damit man nicht in Hundescheiße tritt, unendliche Baustellen, zerkratze U-Bahn-Fenster, Spritzen auf der Straße und im Sommer trockene Brunnen, weil die Stadt nicht genügend Geld hat. Müllmänner mit Überstunden und blutig zusammengeschlagene Männer auf dem Potsdamerplatz, weil eine Gruppe Halbstarker fand, sie sähen schwul aus. Es heißt auch Villenviertel, in denen niemand weiter nach unten sieht als er unbedingt muss.
Aber was Berlin wirklich ausmacht, das sind seine Menschen. Das sind die Mütter, die in letzter Zeit in Horden die Spielplätze belagern. Die Drogenhändler in der Hasenheide, die türkische Familie die scheinbar jeden Samstag einen Geburtstag feiert. Das sind die Obdachlosen und die Aluminium-Frau, die immer an der Hermanstraße in die U-Bahn einsteigt und so zerbrechlich aussieht, wenn sie um Geld bettelt. Das sind die Grafitykünstler, die sich friedlich mit einem Polizisten über den Sommer unterhalten. Das sind die Punks, die in Gruppen durch die Gegend ziehen, das sind die reichen alten Frauen, die bei Dussmann einkaufen und direkt danach im Kleidergeschäft verschwinden. Das sind die Touristen, die die Stadt durch den Sucher ihrer Kameras betrachten. Das sind die Musiker und die Hipster, die Künstler und die Alternativen. Es sind auch die ganz normalen Menschen, die einfach nur vor sich hinleben.
Gemeinsam haben sie nur dieses bestimmte Berliner Gefühl. Verrückt, verschroben, berlinerisch.
Und genau darauf freue ich mich am meisten, wenn ich daran denke, nach Berlin zu fahren. Mich wieder hineinzustürzen in diese Verrücktheit und wieder in der Masse meiner Geburtsstadt zu verschwinden. Die verschmutzte Großstadtluft tief einzuatmen, dem Fahrradfahrer aus dem Weg zu springen, der sich mit wildem Klingeln Durchlass verschafft, mir von dem kleinen Zettelfetzen an der Hauswand seine Geschichte erzählen zu lassen und genau zu wissen, dass ich wieder in Berlin angekommen bin.


Berlin war übrigens richtig geil, wenn auch extrem anstrengend...
Alles Liebe,
Mer-Yan



... comment


dergeschichtenerzaehler am 20.Jul 14  |  Permalink
Schön beschrieben. In 3 Wochen bin ich eine Woche in Berlin und freue mich auch auf die Stadt. Ich werde dann der Tourist sein, der die Stadt nur durch seinen Sucher sehen wird. ;)

ryan tedder am 20.Jul 14  |  Permalink
;D Viel Spaß - ich bin schon gespannt auf die Ergebnisse. Ich bin im Herzen wohl immer Berlinerin geblieben (bin dort geboren)
LG, Mer-Yan

dergeschichtenerzaehler am 20.Jul 14  |  Permalink
Ich bin immer noch ein bisschen ratlos, was ich fotografieren will.
In welchem Stadtteil bist du denn aufgewachsen?

ryan tedder am 20.Jul 14  |  Permalink
Neuköln ;D Man fasst es kaum, aber auch dort kann man eine friedliche Kindheit verbringen...
Wenn ich einen Ratschlag geben sollte, würde ich Kreuzberg empfehlen - Bergmannstraße ist wirklich ein schöner Ort.
Wo willst du denn hin?

dergeschichtenerzaehler am 20.Jul 14  |  Permalink
Ja mittlerweile ist Neukölln ja sogar im Trend, aber da gibt es sicher auch unterschiedliche Ecken.

Wo ich hin will? Nach Berlin :) Ich war eigentlich schon oft in Berlin (sicher schon 2stellige Anzahl an Besuchen), aber ich habe mir nie die Zeit genommen, mal wirklich alles genau anzugucken.
Also ja...keine Ahnung wo ich hin will. Ich gehe oft ungeplant vor, da macht man die spannendsten Entdeckungen. Tempelhof darf ich nicht vergessen, da war ich noch nie.

ryan tedder am 21.Jul 14  |  Permalink
Ja, kaum zu fassen ;D
War allerdings noch nicht so, als ich dort gelebt habe (und das waren immerhin sechs Jahre...

Dann wünsche ich dir viel Spaß beim herumlaufen ;D
Für mich war Kreuzberg immer das schönste Viertel, aber seit der Flughafen in die Tempelhofer Freiheit umgewandelt wurde, lohnt es sich wirklich, dort einen Besuch abzustatten. Warst du mal im Britzer-Garten?

dergeschichtenerzaehler am 21.Jul 14  |  Permalink
Ne diesen Garten kenn ich noch nicht. Empfehlenswert?

Kreuzberg nehme ich auch noch mit und dann will ich die DDR Bauten in Friedrichshain anschauen.

ryan tedder am 21.Jul 14  |  Permalink
Britzer Garten lohnt sich auf jeden Fall, wenn man sich für Gartenkunst interessiert, auch im Hinblick auf Fotografie... ;D
Außerdem habe ich dort laufen gelernt.

blue_rose am 21.Jul 14  |  Permalink
wunderschöner Text!!

ryan tedder am 21.Jul 14  |  Permalink
Danke ;D
Freut mich, dass er dir gefällt!


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