Auszeit
Sie stand da, am Abgrund mit dem Stahlgeländer, an dem sie immer gestanden hatte und immer stehen würde, wenn etwas sie aufwühlte und sie einen winzigen Augenblick Ruhe brauchte, Ruhe vor ihren Freunden und ihrem Volk, Ruhe vor den Aufgaben und Pflichten, die sie drückten wie eine Schraubzwinge und vor ihren Gedanken, so viel schlimmer als alles andere. Natürlich konnte sie sie auch hier nicht ausschalten - kein Mensch konnte jemals aufhören zu denken, wenn er denn nicht starb - aber hier, an diesem Ort fanden sie zur Ruhe und der rasende Strudel, der sonst ihren Kopf beherrschte und all die schönen Frachtschiffe in die Tiefe zog wurde langsamer, die See beruhigte sich und wurde glatt, Windstille.
Es war ein schöner Ort, viel zu schön für dieses schreckliche, enge Schloss, von einer bizarren, fesselnden Eigenart. Vielleicht waren es die steilen, abfallenden Felsen mit ihren schwarzen Zacken und Kanten, oder es waren die hohen, naturgewaltigen Nadelbäume, die sich mit unglaublich winzigen Wurzeln am Gestein festhielten und die knochigen Wipfel dennoch so stolz in die Höhe reckten. Vielleicht war es auch der kleine Bach, der sich am Grund der Schlucht, ganz weit von ihr entfernt durch einen Laubwald schlängelte und wer weiß was für Fische beherbergte, der hier nach oben kleine Strahlen von Sonne sandte, die ihr ein wenig in den Augen stachen, aber so, dass es noch angenehm war. Vielleicht war es auch etwas anderes.
Sie liebte diesen Ort. Etwas in ihr legte sich schlafen und hinterließ eine warme, angenehme Leere. Aber auch wenn sie schön war, sie war Leer.
Und Merry spürte, wie kalt ihr in den letzten Tagen geworden war und wie angespannt ihr Kopf sich anfühlte, wie ein überdehntes Gummiband. Sie spürte, wie lange sie schon nicht mehr geschlafen und sich ausgeruht hatte.
Und sie spürte, wie gerne sie jemanden gehabt hätte, der jetzt neben ihr stand, jemanden der sie festhielt und der sie verstand und der ihre Ruhe teilen konnte, damit sie sich anlehnen konnte und nicht immer alleine stehen musste.
Eine Weile sann sie dem Gedanken hinterher, dann drehte sich Merryande um und schritt langsam zurück in den Palast, den Kopf gehoben und die Schultern durchgestreckt, so wie sie es immer tat und wie es von ihr erwartet wurde.
Mer-Yan
... comment
Wow- das ist echt richtig gut!
Die Gedanken von Merry sind so echt und lebendig, dass man förmlich die Hand ausstrecken könnte, um sie zu berühren.
Man möchte die Sätze am liebsten nehmen und sie für immer in der Hand halten, nur damit man sie nicht vergisst und sie tatsächlich erfassen kann.
Einfach nur der Hammer!
Das ist wirklich gut :) Hab ich total gerne & gespannt gelesen.
Hey, danke!
Ein altes, beinahe vergessenes und ein neues Gesicht!
Hi German-Dreams, welcome to our blog :D
Verlink doch mal deinen Namen!
Und schön, dass du mal wieder vorbeischaust, yeahyeah!
Freut mich, dass es euch gefällt!!!
Lg, mer-yan
ich finds auch toll. :) bei solchen Erzählungen ist es, als spüre man den Wind der an der Klippe weht sanft über die haut streichen, leicht die haare durchstreifen.