Montag, 9. Juni 2014
Echt
An der weißen Metallstange, meinem einzigen Halt im Gedränge, kleben zwei kleine, verschwitzte Hände. Alles Blut ist aus ihnen gewichen, so angestrengt ist der Griff, nur die Knöchel stechen rötlich hervor. Die dünnen, entblößten Arme führen weiter zu knochigen Schultern und in einen ebenso knochigen Körper, der so zerbrechlich aussieht, dass ich ihn am liebsten vor mir selbst abschirmen würde, vor meinem viel zu großen Körper, der das Kind an den Rand der Masse drängt. Aber was kann ich tun? Die Straßenbahn ist so voll, dass keine Freiheit bleibt.
Freiheit, denke ich, was ist das überhaupt? Manchmal habe ich das Gefühl, keiner von uns weiß wirklich, was das ist. Einerseits sind wir heute, hier, in Deutschland, freier als die meisten anderen. Wir haben von Anfang an die Entscheidung. Freiheit im Überfluss. Aber andererseits… andererseits fühlt es sich so gefangen an.
Hinter Gitter gesetzt vom alltäglichen Leben, den Schlüssel haben wir irgendwann im Gedränge verloren, also gaukeln wir uns Freiheit vor und schlagen dabei immer mehr Türen hinter uns zu. Medien versprechen uns Befreiung, Computerspiele, die uns Glück simulieren, Facebook, das uns sagt, wir hätten Freunde. Und so sitzen wir da, jeder in seiner Einzelzelle, und tun so, als lebten wir.
Manchmal treffen wir auf Menschen, von denen wir gesagt bekommen haben, dass wir sie lieben. Wir sprechen miteinander, und wir lachen, einfach, weil es so normal ist, zu lachen. Man muss lachen, wenn man Freunde trifft, denn Lachen, das heißt Glück! Und Glück, das muss man haben. So war es doch immer. „Meine Freunde sind die einzigen Menschen, vor denen ich wirklich offen bin“, sage ich, wenn jemand fragt. Einfach weil es doch das ist, was sie hören wollen. Aber wirklich offen, das bin ich nie. Da ist dieser Raum in meinem Kopf, ein kleiner Raum ohne Türen und Fenster. Dort habe ich meine Seele eingesperrt, damit sie nicht hinaus kann. Damit sie nicht stört, wenn ich normal sein will. Normal, das heißt genauso eingesperrt, wie alle anderen.
Jeden Morgen stehen wir auf und stellen uns wieder dem Alltag, den wir leben, weil wir uns sagen, wir müssten es. In der Hoffnung auf Erfolg und ein Ziel, von dem wir längst wissen, dass wir es nie erreichen werden. Weil da kein Ziel ist, nur das ewige Weiterlaufen im festgefahrenen Trott. Das Glück wird schon irgendwann kommen, denken wir, und laufen weiter. Und wenn uns jemand fragt, „Wie geht es dir?“, dann antworten wir „Gut“, weil wir es nicht anders kennen.
Ich möchte so gerne einfach „Schlecht“ sagen. Warum ich es nicht tue? Dazu fehlt mir der Mut. Aber ich wünsche ihn mir. Und eines Tages, eines Tages wird er da sein.
Eines Tages werde ich ausbrechen. Einfach die Tür aus den Angeln reißen und dafür sorgen, dass sie nie wieder eingesetzt wird. Meinen Computer anzünden, zusammen mit dem Smartphone und mit dem falschen Lachen, das sich schon so tief in mein Gesicht gegraben hat. Und ich werde den Mut finden, einfach nicht zu lächeln. Zu schreien, wenn ich schreien will und zu singen, wenn ich singen will. Ich werde stehenbleiben und einfach die Straße verlassen, mitten in die Wildnis laufen und mich nicht um die alten Wegweiser kümmern. Die Wände zu dem fensterlosen Raum in meinem Inneren mit Hammer und Meißel bearbeiten, bis meine Hände bluten und die Steine bröckeln und meine Seele wird endlich ihre Flügel ausbreiten und losfliegen.
Sie wird fallen und sich verletzen und sie wird manches Mal hängen bleiben und sich losmachen müssen, aber wie wird fliegen. Ich werde rennen und keuchen, hungrig sein und durstig und manchmal verzweifelt, aber ich werde leben. Endlich die Freiheit haben, zu leben.
Da werden keine Maßstäbe mehr sein, die mein Gesicht vermessen, und mir sagen, wo genau sich meine Mundwinkel befinden müssen, wenn ich lächle. Aber ich werde lächeln. Schief, verzogen und verrückt. Aber echt.
Viel ist es nicht, was ich mir wünsche. Nur die Freiheit, echt zu sein.
Und irgendwann, irgendwann werde ich sie haben.
Aber nicht heute. Heute muss ich funktionieren. Ein weiteres Mal perfekt sein und nicht auffallen. Meinen geregelten Alltag abarbeiten. Pünktlich ankommen und die Abläufe nicht stören. Meinen Platz in dieser eingesperrten Gesellschaft einnehmen. Normal sein.
Die Worte fühlen sich klebrig an, als ich sie denke. Ich sehe dem kleinen Mädchen vor mir in die Augen, blaue Augen die viel zu groß aussehen, in dem kleinen, schmalen Gesicht. Anders als sie aussehen sollten.
Schön, denke ich.
Die Kleine lächelt mich an. Schief, verzogen und verrückt.
Und da lächle ich zurück.
Schief, verzogen und verrückt.
Aber echt.

Ein Schreibwettbewerbsbeitrag zum Theme "Wie viel Freiheit wünsche ich mir?" - sogar für einen Preis nominiert, worauf ich sehr stolz bin :D
Alles Liebe,
Mer-Yan



... comment


dergeschichtenerzaehler am 10.Jun 14  |  Permalink
Ein sehr guter Text.
Ich habe wirklich sehr viel über den Inhalt nachdenken müssen und das passiert eher selten.

ryan tedder am 10.Jun 14  |  Permalink
Guten Tag mal wieder ;D
Vielen Dank - das freut mich wirklich. Grade, weil es von Ihnen kommt...
Ich hoffe, Ihre Gedanken waren fruchtbar?
Alles Liebe,
Mer-Yan

dergeschichtenerzaehler am 10.Jun 14  |  Permalink
Nö waren nicht fruchtbar. Das ist bei so einer komplexen Thematik aber auch nicht schlimm. :)

ryan tedder am 11.Jun 14  |  Permalink
Na dann - es ist ohnehin zu warm zum denken... ;)
Alles Liebe,
M-Y


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